Ein Artikel aus der "Welt " vom Di, 7. März 2006, der sehr lesenswert ist:
Neue Pest, alte Angst - Essay
Es gibt gute Gründe, an der Übertragung durch Zugvögel zu zweifeln. Könnte
das Vogelgrippe-Virus nicht im Futtermittel der Nutztiere lauern?
von Josef H. Reichholf
(Ornithologe und Zoologe in München)
In dieser Situation voller Unklarheiten und Annahmen taucht
unweigerlich die Frage auf, wozu die in Deutschland verfügten Beschränkungen
und Kontrollmaßnahmen gut sein sollen. Zweifellos dienen sie zuallererst dem
Schutz der Massenhaltungen von Geflügel. Sie sollen Produktion und Export von
deutschem Geflügelfleisch sichern. Dass mit dem Stallzwang alle kleinbäuerlichen
und privaten Haltungen von Hühnern, Enten, Pfauen und Gänsen schwerstens
getroffen oder ruiniert werden, die Massengeflügelhaltung jedoch nicht, wird
billigend in Kauf genommen. Dabei ist es ähnlich abwegig und durch nichts
bewiesen, anzunehmen, dass ein mit Vogelgrippe infizierter Schwan kurz vor
seinem Ende noch das Bedürfnis verspüren könnte, auf einem Hühnerhof zu
landen, wie es höchst unwahrscheinlich ist, dass sich Zugvögel ausgerechnet über
dem Hof entleeren und dabei die freilaufenden Hühner infizieren. Für solche
Vorgänge fehlt jeder konkrete Hinweis, auch wenn Virologen in Labortests die
Infektionsfähigkeit von Vogelkot zweifelsfrei nachweisen.
Der Bundeslandwirtschaftsminister und die mit der Bekämpfung der Vogelgrippe
befassten Behörden und Institutionen haben diese Möglichkeit selbst nicht
wirklich ernst genommen. Andernfalls hätte letzten Herbst kein Gemüse mehr von
den Feldern und kein Obst aus den Gärten auf den Markt gebracht werden dürfen,
nachdem Zugvögel zu vielen Tausenden über deutsche Fluren geflogen waren. Zum
Schutz der Bevölkerung müsste zukünftig die Nutzung von Freilandgemüse
verboten werden. Die Uferbereiche sämtlicher Gewässer, sogar die Badeseen, wären
zu Sperrzonen zu erklären, weil dort die vom Friedrich-Loeffler-Institut für
besonders gefährlich gehaltenen Wasservögel andauernd ihre Exkremente
hinterlassen. Noch mehr gilt das für die Stadtparkgewässer, auf denen sich
genau jene Vogelarten zu Hunderten tummeln und von den Menschen füttern lassen,
bei denen in Deutschland H5N1-Infektionen nachgewiesen worden sind: Höckerschwäne,
Stockenten, andere Entenarten und Möwen. Doch diese Orte, an denen sich Wasservögel
und Menschen in großer Zahl am nächsten kommen, bleiben offenbar vom
Krisenmanagement gänzlich unberücksichtigt. Die verschärften Bestimmungen
betreffen zwar alle Landwirte, die nebenbei Hühner und Enten halten, nicht aber
die Jäger, obwohl sie mit Fasanen, Wildenten und mit Füchsen hantieren. Dabei
sollten sich Füchse weit eher als freilaufende Katzen an verendeten
Vogelkadavern anstecken. Sie räumen diese nachts ab, bevor am Morgen der
Suchtrupp kommt. Vom eingesperrten Geflügel können Ratten und Mäuse ohnehin
niemals ferngehalten werden.
Deshalb müssen wir wohl in Zukunft mit dem Vogelgrippe-Virus leben. Vielleicht
tun wir das schon seit Jahren und wussten es bloß nicht. Weil tote Vögel, die
es nach jedem strengen Winter in großer Zahl gibt, daraufhin nicht untersucht
worden sind. Oder weil das Virus gesunden, kräftigen Vögeln weit weniger
anhaben kann als dem zu Zigtausenden in der Massenhaltung zusammengepferchten
Geflügel. Wer die Zugvögel für die Hauptverbreiter der Seuche hält, muss von
der geringen Gefährlichkeit der Geflügelpest für frei lebende Vögel und für
den Menschen ziemlich überzeugt sein. Wer dagegen die Vogelgrippe für höchst
gefährlich einstuft, sollte dringend nach anderen Infektionsquellen suchen. Mit
Labortests an toten Tieren allein werden sich die Ausbreitungswege der Viren in
der Natur sicherlich nicht ausreichend erfassen lassen. Beim Ernstfall geht es
aber um die ganze Bevölkerung, um die gesamte Natur und was wir in Zukunft draußen
noch machen können werden. Zu fordern ist daher absolute Priorität für die
Menschen. Danach erst kommt das Geflügel.
ZURÜCK